"Am nächsten kommen wir dem Einstieg in das Denken eines anderen durch Lesen. Lesen ist die geistige Arena, in der unterschiedliche Denkweisen, sture wie milde, und die daraus geborenen Ideen am sichtbarsten werden. Wir haben Zugang zum inneren Erzähler eines Fremden. Lesen ist schließlich eine Art, in den Worten eines anderen zu leben. Solange ich lese, wird seine oder ihre Stimme mein Erzähler."
Siri Hustvedt, Die zitternde Frau, 163

Wie wäre es, so zu denken und zu fühlen wie ein anderer? Man kann versuchen, miteinander zu sprechen. Aber noch tiefer in einen anderen führt das Lesen. Warum? Das Schreiben eines Textes wird nicht gestört durch das Zuhören oder Fragen eines anderen. Es folgt den eigenen Intentionen und Gedanken und hat eine Zeit, sich zu entfalten, die es in einem Gespräch nicht gibt. Und dann treffe ich auf diesen Text und bin aufgefordert, ihm zu folgen, ihn mir anzueignen.



Hustvedt, Siri: Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch, 2010