"Der Mensch, der an der Treue seiner Lebenszeit zweifelt, verliert jedes Vertrauen in die Fähigkeit der Künftigung, das Kommende auch wirklich kommen zu lassen. Vor allem aber: sobald er sich seiner umstrittenen Position bewußt wird und deren tragischen Charakter erkennt, verliert er den Schlaf, denn die blinde Hingabe des Schläfers ist ja die simpelste Form unseres Vertrauens in die Trägheit und den Automatismus einer Fortdauer, die auch dann noch anhält, wenn wir die Augen schließen. Die implizite Voraussetzung für den Schlaf ist, daß sich die vertrauten Dinge beim Erwachen wieder vorfinden, daß der böse Genius unsere Abwesenheit oder Bewußtlosigkeit nicht ausnützt, um uns mit dem Aufbrechen einer Pulsadergeschwulst, einem Herzstillstand oder ähnlichem hereinzulegen. (...) Schlaflosigkeit ist vor allem Mißtrauen."

Das Bewusstsein, dass mein Leben jederzeit enden könnte, ist der Verlust des Vertrauens in die automatische Fortdauer meines Lebens. Im Schlaf verliere ich mein Bewusstsein und nähere mich der Möglichkeit des Todes. Schlaflosigkeit ist dann eine Abwehr dieses Bewusstseinsverlusts, der die Kontinuität meines Lebens bedroht. Schlaflosigkeit ist eine Form der Todesabwehr.



Jankélévitch, Vladimir: Der Tod. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005
amp, 2005