"Es gibt Verhältnisse, die sozusagen von vornherein nur mit einem bestimmten Kapital an Gefühlen wirtschaften und deren Anlage es unvermeidlich mit sich bringt, dieses allmählich aufzubrauchen, so daß ihr Aufhören keine eigentliche Treulosigkeit involviert. Nur freilich, daß sie in ihren Anfangsstadien oft von den andern nicht zu unterscheiden sind, die – um im Gleichnis zu bleiben – von den Zinsen leben und in der alle Leidenschaftlichkeit und Reservelosigkeit des Gebens nicht an dem Grundstock zehrt. Es gehört leider zu den häufigsten Irrungen der Menschen, für Zinsen zu halten, was Kapital ist, und darum eine Beziehung so anzulegen, daß ihr Bruch zu einer Treulosigkeit wird."
Georg Simmel, Dankbarkeit. Ein soziologischer Versuch
in: Schriften zur Soziologie, 216f.

Unter dem Bild von Kapital und Zinsen unterscheidet Georg Simmel drei Formen von Beziehungen. Sind Leidenschaft, Zuneigung, Interesse das Kapital, zehrt sich dieses irgendwann auf und die Beziehung ist dann zu Ende. Sind aber diese Gefühle die Zinsen, bleibt das Kapital erhalten und ebenfalls die Beziehung. In beiden Fällen findet kein Verrat statt wie bei der dritten Form. Denn bei dieser liegt eine wechselseitige Täuschung vor, indem das Kapital für Zinsen gehalten wird, die in Wahrheit das Kapital sind. Das heißt, die die Beziehung tragenden Gefühle werden als unerschöpflich angesehen, obwohl sie schwinden. Dies scheint die häufigste Beziehungsform zu sein.



Simmel, Georg: Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (suhrkamp taschenbuch wissenschaft), 1983