"Solange ja ein Mensch nicht sich selbst annimmt, wird er stets jene Angst haben, von der Umwelt mißverstanden und mißdeutet zu werden; es ist ihm viel zu wichtig, wie wir ihn sehen, und gerade mit seiner bornierten Angst, von uns zu einer falschen Rolle genötigt zu werden, macht er zwangsläufig auch uns borniert. Er möchte, daß wir ihn frei lassen; aber er selbst läßt uns nicht frei. Er gestattet uns nicht, ihn etwa zu verwechseln. Wer vergewaltigt wen? Darüber wäre viel zu sagen. Die Selbsterkenntnis, die einen Menschen langsam oder jählings seinem bisherigen Leben entfremdet, ist ja bloß der erste, unerläßliche, doch keineswegs genügende Schritt. Wie viele Menschen kennen wir, die eben auf dieser Stufe stehenbleiben, sich mit der Melancholie der bloßen Selbsterkenntnis begnügen und ihr den Anschein der Reife geben!"
Der zweite Schritt wäre, "herauszutreten aus der Resignation darüber, daß man nicht ist, was man so gerne gewesen wäre, und zu werden, was man ist. Nichts ist schwerer als sich selbst anzunehmen!"
Max Frisch, Stiller, 407f.

Wenn der Mensch nicht der selbstgefälligen Verführung erliegt, die ihm von außen zugedachten Rollen zu übernehmen, hat er die Chance, zu dem vorzudringen, was er ist. Das ist aber nur ein erster Schritt, denn Selbsterkenntnis ist gefärbt von der Trauer, nicht das zu sein, was man gerne gewesen wäre. Erst wenn man sich von diesen Phantasien getrennt hat, wird Selbsterkenntnis zur Selbstfindung.



Frisch, Max: Stiller. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp (suhrkamp taschenbuch), 1974