"Es ist bemerkenswert, daß wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, daß sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen. Wir wissen, daß jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandelt fühlt, wie entfaltet, und daß auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Male. Die Liebe befreit es aus jeglichem Bildnis. Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, daß wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertigwerden: weil wir sie lieben; solang wir sie lieben."
Max Frisch, Tagebuch 1946-1949, 26

Zu lieben verrätselt den Blick auf den Anderen. Er/sie wird zum Geheimnis, verweigert sich jedem Bild. Doch auch der/die Liebende sucht nicht das Bild des Anderen, verliert sich lieber in einem bilderlosen offenen Horizont, den keine Erkenntnis abschließt.



Frisch, Max: Tagebuch 1946-1949. München: Knaur Taschenbuch, 1967