"Es scheint also, daß nicht ein Mangel an Sein, sondern im Gegenteil die Seinsfülle die Grundlage des Bedürfnisses bildet. Das Bedürfnis zielt nicht auf die völlige Erfüllung des endlichen Wesens, die Befriedigung, sondern auf die Erlösung und die Evasion. Daher bedeutete die Annahme eines unendlichen Wesens, das keine Bedürfnisse hat, eine contradictio in adjecto. Die Erfahrung, die uns die Anwesenheit des Seins als solchen, die reine Existenz des Seins enthüllt, ist eine Erfahrung seiner Ohnmächtigkeit, Quelle jeden Bedürfnisses."
Emmanuel Lévinas, Ausweg aus dem Sein, 55

Diese Passage von Lévinas wirkt wie eine Erwiderung auf die von Sartre zum Begehren nach Seinsfülle. Das Begehren entsteht für Lévinas nicht aus dem Mangel und will die Seinsfülle erreichen, sondern ist vielmehr Abwehr der Seinsfülle, der Identität mit sich, des Angekettet-sein an sich. Scham und Ekel sind Erfahrungen des Seins, der Selbstidentität. Das Sein ist das Unerbittliche, dem wir zu entfliehen suchen. Diese Flucht nennt Lévinas Evasion. In der Evasion wird der Friede mit sich selbst verworfen, die in der Identität mit sich bestünde.
Der Wunsch nach Seinsfülle bei Sartre ist das unmögliche Begehren des Für-sich, An-sich zu sein ohne sich als Für-sich zu verlieren. Für Lévinas ist die Flucht vor der Seinsfülle Ablehnung des Seins des Subjekts als Faktizität, die als Fessel empfunden wird.
Der Anspruch der Freiheit als Negativität des Subjekts ist für Lévinas nicht primär, sondern die Ohnmacht angesichts des Anderen.



Lévinas, Emmanuel: Ausweg aus dem Sein. Hamburg: Felix Meiner, 2005