"Mystisch begabte Individuen meinen nicht, sich der Wirklichkeit, wie sie sie erfassen, erwehren zu müssen; sie empfinden sich in ihrem Grund. (...) Sie sind so sehr ins Werden eingelassen, daß es ihnen nicht in den Sinn kommen kann, den Lauf der Dinge durch Wünsche oder Vermeidungen zu trüben. Insofern ist die These richtig, daß Mystik die intensivste Form von »Realismus« sei. Mystiker bauen die Institution Realität in solchem Maße ab, daß von der verfaßten Welt nichts übrigbleibt außer einem alleseinbegreifenden Fluidum, das zugleich ein Film ist von wundervoller homogener Oberflächlichkeit. Mystik ist die Seinsweise des Psychischen im Zustand des fötalen Tags."
Peter Sloterdijk, Weltfremdheit, 199f.

Das mystische Empfinden ist umfassende Bejahung seiner selbst und der Welt. Weil man sich mit allem eins fühlt, muss man sich selbst und anderem keinen Widerstand entgegensetzen. Es gibt keine Differenz zwischen Subjekt und Objekt. Es gibt keine Schuld, denn alles ist erfüllt und vollendet, ohne die Möglichkeit einer Verfehlung. Und es gibt keinen Tod, denn das Subjekt ist Teil der kosmischen Ganzheit des Werdens.
Die mystische Erfahrung erscheint als Versuch der Wiederbelebung des vorgeburtlichen Zustandes, verweist auf dessen prägende Reminiszenz. Als Ausdruck einer Sehnsucht nach Geborgenheit ist sie auch Flucht vor den Konflikten des Daseins.



Sloterdijk, Peter: Weltfremdheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp (edition suhrkamp), 1993